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Risikoorientierte Prävention in der Praxis

Prof. Dr. Christop Benz

Prof. Dr. Christop Benz

Mo. 11 Jänner 2010

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MÜNCHEN – Prävention steht heute im Zentrum der Zahnmedizin. Dies ist keine Behauptung, sondern  allgemeiner Konsens: In einer repräsentativen Studie des Instituts der Deutschen Zahnärzte (IDZ) aus dem  ahr 2001 bestätigen 93,7% der Zahnärzte, dass Zahnmedizin ohne Prävention kaum noch vertretbar  sei und alle Altersgruppen ansprechen müsse. Haben wir schon immer so gedacht?

Wenn der Autor an seine Studienzeit vor 30 Jahren an einer durchaus nicht rückständigen deutschen  Universität denkt, dann war Prävention Teil der Kinderzahnheilkunde, sprach – zwangsläufig – nur über  Karies, dachte nicht an Recall, sondern an die private Zahnbürste und „motivierte“ mit pauschaler Angst:  Wenn Du nicht putzt, tut es später weh! Die „Prävention“ für Erwachsene bestand weitgehend darin, dem Risiko „hinterherzubohren“. Trotz dieser begrenzten Anfänge waren die letzten 30 Jahre  dennoch erfolgreich. Aus der vierten Phase der Deutschen Mundgesundheitsstudie (DMS IV) lässt sich  entnehmen, dass Karies mehr und mehr auf eine kleine Hochrisikogruppe reduziert ist, der wir nicht  helfen können, weil sie sich jeder Prävention entzieht. Alle sanierungsbedürftigen Zähne verteilen sich  auf 8,7% der Kinder, 17,8% der Jugendlichen und 24,2% der jüngeren Erwachsenen.

Nach 30 Jahren ist der bisherige Präventionsweg ausgereizt. Wenn wir mehr wollen, müssen wir  umdenken:

1. Schwerpunktmäßig über Karies zu sprechen, riskiert Präventionsmüdigkeit, wenn unsere Patienten  die Bedrohung real kaum noch erleben.

2. Pauschale Angst beeindruckt vielleicht Kinder, überzeugt aber Erwachsene nicht. Mit der Erfahrung  vieler Lebensjahre lassen allgemeine Warnungen einen 50-Jährigen nicht mehr glauben, dass sich seine Mundgesundheit dramatisch verändern wird.

3. Karies ist nur eine Facette des Präventionsgedankens. Er umfasst neben der Zahnhartsubstanz den  Zahnhalteapparat, die Mundschleimhaut, den Erhalt von Implantaten und Zahnersatz bis hin zur  Vorbeugung funktioneller und auch allgemeinmedizinischer Erkrankungen.

4. Im Mund gibt es fast keine  Alterserscheinungen. Prophylaxe kann damit in jedem Alter erhalten und schützen, was da ist.

Warum immer Karies?
Wir sprechen deshalb gerne mit unseren Patienten über Karies, weil es so leicht erscheint. Jeder  Patient kennt den Begriff und die Konsequenz: Zahnschmerz! Ganz anders die Parodontitis. Ihre  Bedrohung ist im Denken unserer Patienten noch überhaupt nicht angekommen. Das IDZ hat aktuell  eine repräsentative Umfrage zum Kenntnisstand der deutschen Bevölkerung über parodontale  Erkrankungen veröffentlicht. Und hier liest man Erstaunliches:

• 89% der Bevölkerung können bei vorgegebenen Antworten nicht die richtige Definition der Parodontitis  identifizieren: „Entzündung des Zahnhalteapparates, die auch den Knochen befallen kann.“

• Mehr als 60% kennen keine Folgerisiken – die naheliegenden: Knochen- und schließlich Zahnverlust.

• Fast 70% sehen in unzureichender Mundhygiene keinen Risikofaktor.

Wenn man sich die tatsächliche Erkrankungshäufigkeit vor Augen führt (PSI ≥3 bei 74% der jüngeren  Erwachsenen und 88% der Senioren), wird klar, dass der Schwerpunkt der präventiven Aufklärung ab  jetzt dem Zahnhalteapparat gelten muss, zumal die präventiven Ziele gleich bleiben. Die DMS IV sagt klar: Die Qualität der Mundpflege und die Recall-Bereitschaft des Patienten entscheiden über die  Gesundheit des Parodontiums gleichermaßen wie über die der Zahnhartsubstanz! Dabei entsteht  zunehmend auch Druck von der juristischen Seite. Rechtsanwälte interessieren sich vermehrt dafür,  parodontal nicht aufgeklärte und behandelte Patienten zu vertreten.

Wer macht Prophylaxe?
Zahnärzte wachsen mit einem „Manufaktur“-Bewusstsein auf: Nur was man mit den eigenen Händen  macht, ist gut getan. Gleichzeitig fehlt im Studium die Zeit für eine intensivere Beschäftigung mit der  Prävention – oftmals sind es weniger als die 60 Unterrichtsstunden, die man im Einstiegsniveau einer  Präventionsassistentin erwartet. Rachel Trueblood folgert entsprechend, dass die aktive  Präventionsarbeit besser in den Händen spezialisierter Teammitarbeiterinnen aufgehoben ist (Pediatr.  Dent. 2008;30:49-53). Chefsache ist es dann, den hohen Stellenwert gegenüber den Patienten zu  betonen. Bei Zahnärzten, die Prävention erfolgreich umsetzen, ist dieser Gedanke längst angekommen. Sie sehen nach der IDZ-Studie aus dem Jahr 2001 ein ausgereiftes, präventionsorientiertes Praxiskonzept und gut ausgebildete Teammitarbeiterinnen als Garanten für ihren Erfolg, während die  anderen Kollegen – meist vergeblich – auf das Interesse der Patienten warten.

Der alte Präventionspatient
Die Kombination aus „alt“ und „Prävention“ mag für viele noch absurd klingen, aber wir werden uns  daran gewöhnen müssen: Eine präventionsorientierte Praxis, bei der nicht schon heute – je nach  Region – jeder fünfte bis vierte Patient 65 Jahre und älter ist, verliert jedes Jahr Patienten. Dies entspricht der Altersentwicklung in Deutschland, deren Umkehr wir nicht mehr erleben werden (Abb. 1).  Die durchschnittliche Praxis erreicht etwa 20% der Senioren, einige Praxen aber deutlich mehr.  Erfolgsfaktoren hier sind ältere Teammitarbeiterinnen, barrierefreie Räumlichkeiten, altersgerechtes  Informationsmaterial (Abb. 2) und glaubwürdige Begründungen für das Präventionsangebot. Von diesen glaubwürdigen Begründungen gibt es tatsächlich einige: zum Beispiel Bisphosphonat-Problematik im Zuge einer Osteoporosetherapie, Einfluss auf die allgemeine Gesundheit (z.B. Lungenerkrankungen),  höhere Chance, Prothesen zu vermeiden, und nicht zuletzt das persönliche Risiko für  Munderkrankungen.

Abb. 1, v.l.n.r.: Seit 1990 leben in Deutschland mehr Menschen, die 60 Jahre und älter sind, als solche, die jünger als 20 sind. Diese Schere geht immer weiter auf (Statistisches Bundesamt). Abb. 2:  Broschüre der Deutschen Gesellschaft für Alterszahnmedizin zur Seniorenprävention (www.dgaz.org).  Abb. 3: Das Plaque Indicator Kit (links) analysiert einzelne Plaqueproben, der Saliva-Check Mutans  informiert in 15 Minuten über die SM-Häufigkeit (GC).

Risikoanalyse
Die persönliche Analyse der Risiken für Mundkrankheiten wird in deutschen Praxen immer noch selten  durchgeführt – 2001 waren es 7%. Wenn dann aber 66% der Praxen ihren Patienten ein Recall-Angebot  machen, bleibt zu fragen, auf welcher Grundlage dies eigentlich geschieht. Ein Erwachsener, der selbst  für Prävention zahlen soll, möchte wissen, warum dies gerade für ihn wichtig ist, und er möchte Erfolge  seines Engagements erleben. Ein Konzept, das jeden zweimal im Jahr zur Prophylaxe bittet, überzeugt  wenige – gerademal jeden vierten jüngeren und jeden fünften älteren Erwachsenen (IDZ, 2001). Die  wissenschaftliche Diskussion um die Genauigkeit von Risikoanalysen mag bei vielen Kollegen den  Eindruck hinterlassen haben, dass man hier ein unzuverlässiges und damit unbrauchbares Instrument  zur Verfügung hätte. Dieser Eindruck ist jedoch falsch, denn für die Praxis zählt Überzeugungskraft und Motivation eines Tests viel mehr als Sensitivität und Spezifität. Ein falsch-positiv getesteter Patient wird  nichts Schlimmeres erhalten als das, was ihm viele Praxen ohnehin anbieten würden: einen Recall-Termin.

Aktuell beginnt sich die Industrie wieder für neue Wege der Risikoanalyse zu interessieren. In der  Zusammenarbeit mit verschiedenen europäischen Universitäten hat GC z.B. in den „Minimum- Interventionsplan (MI)“ neue und für den Patienten eindrucksvolle Testmethoden integriert (Abb. 3).  Demnächst folgen unter dem gleichen Dach Analysemethoden für die parodontale Gesundheit. Diese  Integration gehört zur neuen Prävention, denn für den Patienten ist es völlig egal, wo das Risiko  herkommt – Hartsubstanz oder Halteapparat –, wenn die Konsequenz gleichermaßen „Zahnverlust“ heißt und auch der präventive Weg gleich läuft.   

(Erstmal erschienen in der Dental Tribune Germany 7/2009.)

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