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Österreichische Ärztekammer: „Regierungsprogramm“ für die Gesundheitsversorgung

Die Österreichische Ärztekammer plädierte für nachhaltige und zukunftssichere Lösungen der medizinischen Versorgung. (Bild: ÖÄK/Karo Pernegger)
Österreichische Ärztekammer

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Mo. 9 September 2024

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Wien – Gut 50 Tage vor der Nationalratswahl präsentierte die ÖÄK-Spitze zentrale Forderungen und Lösungen für das heimische Gesundheitssystem der Zukunft.

„Wir Ärzte kennen aufgrund der täglich mehr als 500.000 Patientenkontakte in den Ordinationen und Spitälern die Bedürfnisse der Patientinnen und Patienten am besten. Wir wissen aus unserer tagtäglichen Arbeit, was in unserem Gesundheitssystem gut läuft, und wo Reformen angesagt sind“, betonte Johannes Steinhart, Präsident der Österreichischen Ärztekammer, bei einer Pressekonferenz in Wien. „Daher ist es nur folgerichtig, dass wir uns als Ärztekammer mit all den Erfahrungen der Ärztinnen und Ärzte in die politische Diskussion um nachhaltige und zukunftssichere Lösungen für die medizinische Versorgung einbringen. Und dass wir folglich den künftigen politisch Verantwortlichen einen Leitfaden, ein ‚Regierungsprogramm‘, für die Gesundheitsversorgung der Zukunft präsentieren, den wir gerne mit ihnen gemeinsam und konstruktiv abarbeiten möchten.“ Dabei gehe es insbesondere darum, die Gesundheitsversorgung nicht nur auf Top-Niveau abzusichern, sondern weiter auszubauen. „Auf den Punkt gebracht: Den zahlreichen negativen Entwicklungen im österreichischen Gesundheitssystem muss wirksam gegengesteuert werden. Das Thema Gesundheit gehört auf der Prioritätenliste der Politik ganz nach oben“, legte Steinhart die Marschroute fest.

Gesundheitskompetenz der Bevölkerung stärken

Eine der wichtigsten Säulen der Gesundheitsversorgung ist es, die Gesundheitskompetenz der Bevölkerung zu stärken, idealer Weise bereits in möglichst frühen Lebensphasen. Daher schlägt die ÖÄK vor, ein eigenes Schulfach „Gesundheitsbildung“ als verbindlichen Bestandteil in den Lehrplan zu integrieren. „Das kann so früh wie möglich geschehen, am besten schon im Volksschulalter. Wir stehen dafür jederzeit für Gespräche mit dem Unterrichtsministerium bereit und werden gerne unsere Expertise einbringen, um das möglich zu machen“, so Steinhart. Prävention helfe, Krankheit und Kosten im Gesundheitssystem zu vermindern und die Lebensqualität zu verbessern.

Steinhart verwies exemplarisch auf das erfolgreiche Projekt „Med4School“, eine Initiative der Ärztekammer für Wien, der Wiener Krankenversicherungsträger und ihrer Kooperationspartner, die der Gesundheitsförderung in Volksschulen dient. Im Rahmen dieses vielsprachigen Projektes lernen Schüler, wie ihr Körper funktioniert, aber auch, wie wichtig ein intaktes Gesundheitswesen für die Gesellschaft ist. So wird auf einfache Weise Gesundheitskompetenz vermittelt. „Das Projekt läuft jetzt seit zwei Jahren an den Wiener Schulen und erhält von allen Seiten höchstes Lob“, resümierte Steinhart: „Dieses Lob gilt zu einem großen Teil der Wiener Vizepräsidentin Naghme Kamaleyan-Schmied, die das Projekt mit viel Einsatz und riesigem Engagement initiiert und auf den Weg gebracht hat.“

Generell soll der Präventionsgedanke stärker in allen Bereichen des Gesundheitswesens verankert werden: „Wir streben eine Weiterentwicklung der e-Card zu einer digitalen Gesundheitsvorsorgekarte an. Begleitend muss ein bundesweites Gesundheitsvorsorgeprogramm mit Anreizsystemen her, individuell angepasst an alle Altersgruppen. Der medizinische Erfolg des seit Jahrzehnten bestehenden und erfolgreichen Mutter-Kind-Passes, dessen 50. Geburtstag wir heuer feiern durften, soll dafür Pate stehen“, erklärte Steinhart.

Kein Ärzte-Bashing, Stopp der Konzernisierung

Steinhart unterstrich auch, dass sich die Ärzteschaft massiv dagegen verwehren werde, den Arztberuf als freien Beruf in Frage zu stellen und zum Beispiel laut darüber nachzudenken, Spitalsärzten zukünftig Nebenbeschäftigungen im wahlärztlichen Bereich zu verbieten oder Medizinstudenten und Jungärzten etwaige Zwangsverpflichtungen aufzuerlegen. Statt mit Verboten noch mehr Ärztinnen und Ärzte aus den Spitälern zu vertreiben oder überhaupt an das Ausland zu verlieren und so die Versorgung der Bevölkerung zu gefährden, müsse die Politik das solidarische Gesundheitssystem, das jahrelang als eines der besten der Welt galt, langfristig absichern und die Arbeitsbedingungen für Ärztinnen und Ärzte sowie für andere Gesundheitsberufe verbessern.

Und nicht zuletzt werde sich die Ärzteschaft auch gegen aufkommende Tendenzen einer profit-orientierten Konzernisierung in der medizinischen Versorgung wehren. „Zahlreiche internationale Beispiele zeigen, dass solche Trends eine Verschlechterung der Versorgung befürchten lassen und die ärztliche Freiberuflichkeit bedrohen. Ärzte müssen ihre Patienten nach ausschließlich medizinischen Kriterien behandeln können und es darf zu keinerlei kommerziell motivierten Vorgaben durch Betriebswirte und Controller kommen“, so Steinhart.

Lenkung der Patientenströme

„Wenn wir es dann auch noch schaffen, dass die neue Bundesregierung eine verbindliche Lenkung der Patientenströme umsetzt und damit eine langjährige Forderung der Österreichischen Ärztekammer, dann stünde das System auf viel sichereren Füßen als es jetzt der Fall ist“, betonte Steinhart. Erst vor wenigen Wochen veranstaltete die Bundeskurie angestellte Ärzte der ÖÄK eine stark besuchte und hochkarätig besetzte Enquete zum Thema „1450 – das Heilmittel für die Spitäler?“ und zum Themenbereich Patientenlenkung mit allen seinen Facetten und Möglichkeiten. „Das ist eines der brennendsten Themen unserer Gesundheitsversorgung“, befand Harald Mayer, ÖÄK-Vizepräsident und Bundeskurienobmann der angestellten Ärzte. „Dass Vertreter der Politik, der Gesundheitsdienstleister, aber auch von ELGA und aus dem Pflegebereich teilgenommen haben, zeigt, dass wir diese Thematik aufgreifen und mit Lösungen für ganz Österreich unterfüttern müssen.“ Und auch in den Wochen danach hatten sich viele Stakeholder im Gesundheitssystem zu dem von der ÖÄK seit längerer Zeit propagierten Modell „digital vor ambulant vor stationär“ und zu einem Ausbau telemedizinischer Angebote bekannt.

Mayer: „Ich freue mich sehr, dass jetzt offensichtlich alle Dienstleister im Gesundheitssystem dafür an einem Strang ziehen wollen. Wir werden eine treibende Kraft dieses Prozesses darstellen und ganz genau darauf schauen, dass die Ankündigung, dass es künftig unter anderem auch Videokonsultationen über die Gesundheitshotline 1450 geben soll – und zwar in ganz Österreich - vorangetrieben und eingehalten wird. Meine Vision ist eine Patientenlenkung, die beiden Seiten sofort hilft: Zum einen dem Patienten, der zur bestmöglichen ärztlichen Betreuung gelenkt wird, und zum anderen den Spitälern, deren Ambulanzen und folglich auch unsere Ärztinnen und Ärzte durch diesen Prozess massiv entlastet werden würden.“

Gleichzeitig müsse dafür gesorgt werden, die Arbeitsbedingungen in den Spitälern deutlich zu verbessern und flexible Arbeitszeitmodelle und auch Teilzeit zuzulassen, betonte der BKAÄ-Obmann: „Dienstpläne und Dienstformen müssen attraktiv sein und flexibel an die persönlichen Lebensumstände und Lebensphasen angepasst werden. Dazu gehört zum Beispiel auch die Möglichkeit zu schaffen, Nachtdienste in bestimmen Lebensphasen reduzieren zu können. Ein Wiedereinstieg nach Karenz und die bessere Vereinbarkeit von Beruf und Privatleben müssen gefördert werden – insbesondere durch flächendeckende Kinderbetreuungsmöglichkeiten in den Spitälern. Wenn wir den Ärztinnen und Ärzten bei der Arbeitszeit nicht entgegenkommen, das gilt insbesondere für die ganz jungen und die älteren Kollegen, dann wird es weiterhin dazu kommen, dass sie uns davonlaufen.“

Stärkung des niedergelassenen Bereichs

Die aktuell bestehenden Lücken mit fast 300 offenen Kassenstellen müssten geschlossen und damit die Wartezeiten auf Termine deutlich reduziert werden, betonte Edgar Wutscher, ÖÄK-Vizepräsident und Bundeskurienobmann der niedergelassenen Ärzte: „Wir haben vor kurzem unseren 7-Punkte-Plan für die nachhaltige Stärkung des niedergelassenen Bereichs präsentiert – wir brauchen unter anderem eine Verbesserung der Arbeitsbedingungen in den Ordinationen. Die Kassenverträge müssen flexibler gestaltet werden. Es ist dringend notwendig, sich nach dem Bedarf zu orientieren. Das bedeutet, dass es allemal besser ist, eine Kassenstelle mit eingeschränkten Ordinationszeiten zu besetzen, als diese unbesetzt zu lassen.“

Die Zukunft liege auch in der Erweiterung der Zuwendungsmedizin. „Darunter ist vor allem der Ausbau der Gesprächsmedizin vor der technisierten Medizin zu verstehen. Es macht keinen Sinn, in diesem Bereich weiterhin Limitierungen bestehen zu lassen, generell lehnen wir Deckelungen und Degressionen als leistungsfeindlich und realitätsfremd ab – warum soll denn der 101. Patient anders behandelt werden als der 21.?“, fragte sich Wutscher. Dringend nötig sei auch der einheitliche Leistungskatalog, den die ÖÄK schon seit über drei Jahren fertig und der ÖGK präsentiert hat. „Leider ohne seriöse Reaktion der Kasse. Ich möchte hier ÖGK-Obmann Huss auch in die Pflicht nehmen, endlich in seriöse Gespräche einzutreten, statt leere Worthülsen von sich zu geben.“ Zudem könne der einheitliche Leistungskatalog nicht mit der Einführung eines leistungshemmenden Pauschalierungssystems einhergehen. „Die Pauschalierung bedeutet eine Verschlechterung der Patientenversorgung. Wir können nicht alle Patientinnen und Patienten über einen Kamm scheren“, sagte Wutscher.

Verdoppelung der Vorsorgeuntersuchungen

„Ein wesentlicher Punkt in der zukünftigen Gesundheitspolitik ist die Abkehr von der Reparaturmedizin hin zur Vorsorgemedizin. Unser neues Modell des lebenslangen Gesundheitspasses ist die logische Weiterentwicklung des Erfolgsmodells Mutter-Kind-Pass: Er erhält alle Vorsorgeuntersuchungen und alle Impfungen für die jeweiligen Lebensabschnitte und wir knüpfen daran auch hohe Ziele“, erklärte Wutscher. Als Beispiel nannte er die Koloskopie: „Die Darmkrebs-Vorsorge ist ein Paradebeispiel, wie viel man mit Prävention erreichen könnte.“ 5.000 Menschen erkranken in Österreich jährlich an Darmkrebs, 3.000 davon sterben an der Erkrankung, die damit eine der häufigsten und gefährlichsten Krebserkrankungen ist. Gleichzeitig gibt es in 90 Prozent aller Fälle Vorstufen in Form von gutartigen Polypen, die man bei der Koloskopie gut erkennen könne. Durch Entfernen dieser Polypen lassen sich 90 Prozent der Erkrankungen verhindern, verwies Wutscher auf die aktuellen Informationen der Österreichischen Krebshilfe.

„Leider nehmen aber nur 10 Prozent der Versicherten die Vorsorge-Koloskopie wahr – wir setzen uns mit dem Gesundheitspass das Ziel, diese Quote schon in den ersten Jahren zu verdoppeln“, erklärt Wutscher. Auch bei anderen Vorsorgeuntersuchungen gebe es noch viel Luft nach oben: „Aktuell werden österreichweit über 1,1 Millionen Vorsorgeuntersuchungen durchgeführt – warum soll nicht auch insgesamt eine Verdoppelung möglich sein?“

Absicherung des Gesundheitssystems

„Wenn wir die vorgestellten Innovationen und Verbesserungen umsetzen könnten, wären wir bei der Absicherung unseres Gesundheitssystems schon einen großen Schritt weiter“, resümierte Steinhart: „Sowohl zum Wohle der Patientinnen und Patienten, als auch im Sinne attraktiverer Arbeitsbedingungen für unsere Ärztinnen und Ärzte. Unsere konkreten Pläne, nämlich dieses nun vorliegende Regierungsprogramm, werden wir den politisch Verantwortlichen zur Verfügung stellen. Wir stehen für eine konstruktive Zusammenarbeit, die diese Ziele verfolgt, jederzeit sehr gerne zur Verfügung.“

Das ÖÄK-Regierungsprogramm wurde am 16. August 2024 in einer Sondernummer der Österreichischen Ärztezeitung (ÖÄZ) einer breiten Öffentlichkeit zugängig gemacht und ist auch online verfügbar.

Quellen: Österreichische Ärztekammer

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