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Viel Karies und wenig Pflege

Mundhygienedemonstration bei einer Patientin mit Morbus Down (Foto: Prof. Dr. Cichon).
Prof. Dr. Peter Cichon, Deutschland

Prof. Dr. Peter Cichon, Deutschland

Mo. 15 März 2010

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WITTEN – Der orale Gesundheitszustand bei Patienten/-innen mit Behinderungen ist oft durch eine mangelnde Zahnpflege und eine kohlenhydratreiche Ernährung beeinflusst. Zahnerhaltung steht bei der Behandlung im Vordergrund, bei der gewisse Grundsätze beachtet werden müssen.

Viele Patienten/-innen mit Behinderungen, die eine selbstständige Zahnpflege nur beschränkt leisten können, sind häufig nicht willig, sich die Zähne von Angehörigen oder Betreuern/-innen reinigen zu lassen. Dieses verursacht nicht nur einen erheblichen Belagsbefall, sondern es fehlt auch die schützende Wirkung der fluoridhaltigen Zahnpasten. In Verbindung mit ungünstigen Ernährungsgewohnheiten (häufiger Konsum von Zucker bzw. vergärbaren Kohlenhydraten) und einer mangelhaften zahnärztlichen Versorgung können dadurch schon nach kurzer Zeit ausgedehnte kariöse Destruktionen entstehen. Studien über den Kariesbefall und Sanierungszustand haben gezeigt, dass viele Patienten/-innen mit Behinderungen im Vergleich zur übrigen Bevölkerung einen deutlich erhöhten Kariesbefall und einen weit fortgeschrittenen Zerstörungsgrad der Zähne aufweisen und dass der Sanierungsgrad des Gebisses noch deutlich unter dem nicht behinderter Patienten/-innen der entsprechenden Altersgruppen liegt (Abb. 1). Forschungen belegen, dass eine dauerhaft bestehende Belagsbildung zu schweren gingivalen Entzündungszuständen führen kann und dass Gingivitiden ein Risikofaktor für parodontale Destruktion und Zahnverlust sind.

Besonders gefährdet für rasch fortschreitende marginale Parodontitiden sind wegen ihrer gestörten Immunabwehr Patienten/-innen mit Morbus Down (Abb. 2). Bei geistigen und/oder mehrfachen Behinderungen sind aufgrund zerebraler Schädigungen und Hirnfunktionsstörungen häufig mit zerebralen Krampfanfällen belastet. Als unerwünschte Nebenwirkungen einer antikonvulsiven medikamentösen Therapie können bei Langzeitbehandlungen mehr oder weniger stark ausgeprägte gingivale Wucherungen – etwa durch Phenytoin – entstehen, die in vielen Fällen Schwierigkeiten bei therapeutischen Interven-tionen bereiten (Abb. 3).

Behandlungsgrundsätze
Grundsätzlich sind wir der Meinung, dass sich die zahnärztliche Therapie bei Patienten/ -innen mit Behinderungen nicht von der bei nicht behinderten Patienten/-innen unterscheiden darf. Das übergeordnete Behandlungsziel ist die Kontrolle der Entwicklung von destruktiven Erkrankungen, um einen weiteren Verfall und Funktionsverlust der (Rest-)Dentition zu verhindern. Die Problematik der zahnärztlichen Versorgung eines/einer Patienten/-in mit Behinderung darf nicht allein auf Fragen der Behandlungsmethoden und -möglichkeiten beschränkt bleiben, sondern muss die Besonderheit seines Gesundheitszustandes berücksichtigen und vor dem Hintergrund seines gesellschaftlichen Umfeldes und seiner Lebensgewohnheiten erörtert werden.

Konservierende Maßnahmen
Auch bei einem erheblichen Zerstörungsgrad können kariöse Destruktionen durch geeignete restaurative Maßnahmen behoben werden, sodass ein Verlust der Zähne weitgehend vermieden wird und nur in Ausnahmesituationen tief zerstörte, nicht erhaltungswürdige Zähne entfernt werden müssen. Entsprechend dem Zerstörungsgrad kann die Funktionstüchtigkeit eines kariös erkrankten Gebisses durch eine konservierende Versorgung mit Füllungen und endodontischen Maßnahmen wiederhergestellt werden. Einige Zähne mit stark fortgeschrittenen kariösen Destruktionen können nur durch die Anfertigung von Kronen erhalten werden. In einer eigenen Longitudinalstudie aus dem Jahr 2007 über die Entwicklung der zahnärztlichen Behandlung von Menschen mit Behinderungen in der Zahnklinik der Universität Witten/Herdecke zeigte sich im Verlauf der Jahre 1994 bis 2003 eine steigende Anzahl von Patienten/-innen und Behandlungssitzungen sowie ein zunehmender Anteil von konservierenden und chirurgischen Leistungen wie von Behandlungen in Intubationsnarkose. Dabei lag das Verhältnis von zahnerhaltenden Maßnahmen zu den Zahnentfernungen konstant bei 3 zu 1. In einer früheren Studien konnte bereits 1999 nachgewiesen werden, dass zahnerhaltende Maßnahmen bei Patienten/-innen mit Behinderungen trotz eines häufig anzutreffenden unzureichenden Mundpflegezustandes und erschwerter Behandlungsbedingungen eine identische Prognose haben wie die der übrigen Bevölkerungsschichten. Insgesamt mussten nur 1,5% der wiederhergestellten Zähne im Beobachtungszeitraum von zehn Jahren entfernt werden. In einer weiteren Studie aus dem Jahr 2003 konnte gezeigt werden, dass durch eine regelmäßig durchgeführte Erhaltungstherapie, die neben der klinischen und radiologischen Diagnostik die Remotivation von Patienten/-innen und ihrer Angehörigen sowie professionelle Zahnreinigungen und Fluoridierungsmaßnahmen umfasste, der Kariesbefall bei Patienten/-innen mit Behinderungen unter Kontrolle gehalten werden konnte.

Es darf nicht vergessen werden, unter welchen ungünstigen Bedingungen und Schwierigkeiten Patienten/-innen mit Behinderungen vielfach behandelt werden können. Nur mit einem oft großen personellen und einem enorm gesteigerten zeitlichen Aufwand kann ein stark zerstörtes Gebiss bei Patienten/-innen mit Behinderungen wiederhergestellt werden (Abb. 4 a – c).

Parodontalbehandlungen

Plaque-induzierte Gingivitis
Die Gingivits ist eine reversible Erkrankung. In den meisten Fällen führt die mechanische Entfernung bzw. Reduktion der supragingivalen Mischflora zu einer Homöostase der bakteriellen Aggression und der Wirtsabwehr sowie zu einem Ausheilen der bindegewebigen Entzündungszustände. Der persönlichen Zahnpflege kommt bei der Behandlung gingivaler Entzündungszustände eine große Bedeutung zu. Bei Menschen, die Schwierigkeiten bei der Durchführung der persönlichen Zahnpflege haben, besteht die Notwendigkeit zur Infektionskontrolle unterstützende Prohylaxesitzungen mit professionellen Zahnreinigungen und Mundhygienedemonstrationen regelmäßig durchzuführen. Patienten/-innen mit Behinderungen muss eine Methode zur persönlichen Belagskontrolle empfohlen werden, die ihre motorischen oder mentalen Einschränkungen berücksichtigt und die sie und/oder ihre Angehörigen oder Betreuer bei ihnen auch durchführen können (Abb. 5).

Marginale Parodontitis
Problematisch bleibt die Therapie der marginalen Parodontitiden. Das Ziel einer Parodontalbehandlung besteht in dem Aufhalten des destruktiven Krankheitsgeschehens, dem Verhindern von akuten Schüben und dem Gewinn von parodontalem Attachment durch eine supra- und subgingivale Entfernung der Hart- und Weichablagerungen, die bei aggressiv verlaufenden Formen durch eine systemische und/oder antimikrobielle Therapie wirkungsvoll unterstützt werden kann. Dabei konnte die zentrale Bedeutung der sorgfältigen Plaquekon-trolle durch den/die Patienten/-in durch Langzeituntersuchungen nach Parodontalbehandl-ungen bestätigt werden. Eine mangelhafte oder fehlende Mundhygiene im Anschluss an parodontaltherapeutische Maßnahmen verhindert nicht nur den Erfolg der Behandlung, sondern kann unter Umständen auch zu einer Exazerbation der parodontalen Entzündungserscheinungen führen.

Wegen der häufig anzutreffenden unzureichenden persönlichen Zahnpflege sind wir daher bei der Durchführung der Parodontitistherapie bei Patienten/-innen mit Behinderungen äußerst zurückhaltend. Dieses gilt in besonderem Maß für Patienten/-innen mit Morbus Down, bei denen die Wirkung parodontal-therapeutischer Maßnahmen noch zusätzlich ungünstig beeinflusst wird durch die Funktionsschwäche des unspezifischen Immunsystems.

Zwar kann durch regelmäßig durchgeführte professionelle Entfernung harter und weicher Ablagerungen eine Reinfektion vermindert und eine unzureichende persönliche Belagskontrolle nach einer Parodontalbehandlung bis zu einem bestimmten Ausmaß kompensiert werden. Inwieweit dadurch aber Langzeiterfolge gewährleistet werden können, bleibt abzuwarten (Abb. 6). Allerdings ist eine gänzliche Verweigerung einer notwendigen Taschentherapie wegen einer unzureichenden Mundhygiene aus ethischen Gründen und dem heutigen Verständnis zur Entstehung entzündlich destruktiver Parodontalbehandlungen nicht gerechtfertigt.

Medikamentös determinierte Gingivawucherungen
Weit ausgedehnte medikamentös-induzierte gingivale Wucherungen können die Kaufunktion beeinträchtigen und eine Zahnpflege erheblich erschweren. Sie werden durch ein Ausdünnen und/oder Abtragen der gingivalen Gewebsvermehrung in Form einer externen Gingivektomie, verbunden mit Gingivoplastik behandelt. In der Regel werden diese ausgedehnten Eingriffe während einer Intubationsnarkose ausgeführt. Da die Aufrechterhaltung einer guten Mundpflege die Neubildung gingivaler Wucherungen zu einem großen Teil verhin-dern kann, ist nach Abschluss der Therapie eine sorgfältige Plaquekontrolle zur Vermeidung von Rezidiven zwingend notwendig (Abb. 3 und 4 a–c).

Prophylaxe
Aus der oben beschriebenen Problematik einer unzureichenden Zahnpflege konzentriert sich unsere Arbeit hauptsächlich auf Prophylaxemaßnahmen. Im Rahmen von regelmäßigen Kontrollsitzungen versuchen wir, durch professionelle Zahnreinigungen und Mundhygienedemonstrationen, die Karies und gingivale Entzündungszustände unter Kontrolle zu halten (Abb. 5 und 6). So zeigten die Ergebnisse einer eigenen Studie, dass durch regelmäßig durchgeführte Kontrollsitzungen mit professionellen Zahnreinigungen und Mundhygienedemonstrationen der Mundgesundheitszustand von Patienten mit Morbus Down günstig beeinflusst werden konnte (Veröffentlichung in Vorbereitung). Über einen Beobachtungszeitraum von durchschnittlich 18 Jahren konnte bei diesen Patienten/-innen ein durchschnittlicher DMF-T-Summenindizes unter dem von Erwachsenen der 4. Deutschen Mundgesundheitsstudie aus dem Jahr 2006, ein hoher Anteil von kariesfreien Dentitionen und eine hohe Zahl von Restaurativen festgestellt werden. Weiterhin konnten der geringe Anteil von erwachsenen Patienten/-innen mit fortgeschrittenen parodontalen Destruktionen und die niedrigen Extraktionsraten der vorliegenden Studie die positive Wirkung des Vorsorge- und Nachsorgeprogramms auf parodontale Erkrankungen und den Zahnverlust bei Patienten/-innen mit Morbus Down über einen längeren Zeitraum nachweisen (Abb. 7 a – c).

Fazit
Durch aufwendige zahnerhaltende Maßnahmen kann bei Patienten/-innen mit Behinderungen ein stark zerstörtes Gebiss restauriert und bis zu einem gewissen Grad eine ausreichende Kaufunktion und eine ansprechende Kosmetik dauerhaft (wieder) hergestellt und weitere Destruktionen des stomatognathen Systems verhütet werden. Voraussetzung dazu ist ein konsequent durchgeführtes Nachsorgeprogramm.

Die Literaturliste ist bei der Redaktion erhältlich.

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