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Die Bedeutung des Kiefergelenkes

Dr. Werner Klöpfer, Prim. Prof. Dr. Martin Friedrich

Dr. Werner Klöpfer, Prim. Prof. Dr. Martin Friedrich

Di. 8 Juni 2010

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WIEN – „Das Kiefergelenk ist das wichtigste Gelenk im Körper“, schrieb Dr. George Goodheart, Begründer der Applied Kinesiology. Kaum ein kompetenter Therapeut im Bereich des Bewegungsapparates wird heute bestreiten, dass das Kiefergelenk mit seiner Arbeits- und Stützmuskulatur wichtig ist, aber dass es das wichtigste Gelenk sein soll, dürfte möglicherweise überraschen.

Es lohnt ein Blick in die Entwicklungsgeschichte des Menschen: Frühe Lebewesen waren Hydratiere, die die Nahrung in den Körper hineinstrudelten, dort wurde sie verdaut und dann wieder auf gleichen Weg oder durch eine Kloake ausgeschieden. Erst mit dem Landgang der Amphibien erfordert die Schwerkraft auch einen komplexeren Halteapparat des Kopfes. Bei den Reptilien ist diese Konstruktion noch relativ starr, aber bei den vierfüßigen Warmblütern wird eine direkte Verbindung von Halswirbelsäule und Kauapparat notwendig, um im dreidimensionalen Raum den Kopf an die Nahrung heranzuführen. Auch die Kiefer- und Gesichtsformen wurden an diese Bedingungen angepasst. Zunächst waren Kiefer und Kauorgan eine Art „Kombiwerkzeug“. Mit dem „Multifunktionsgerät“ wurde gefressen, sich verteidigt, der Körper gepflegt und sozial kommuniziert. Die Weiterentwicklung der Säugetiere war dadurch gekennzeichnet, dass die Kauwerkzeuge immer mehr in den Bereich der sozialen Kommunikation rückten. Die enge räumliche und funktionelle Beziehung zwischen Halswirbelsäule und Kauapparat blieb dabei erhalten.

Die Aufrichtung aus dem Vierfüßlergang brachte noch mal eine komplexere Anforderung an Haltung und Nahrungsaufnahmesystem. Die vorderen Extremitäten entwickelten sich zu differenzierten Werkzeugen und die Kauwerkzeuge wurden in die immer komplexer werdende soziale Kommunikation einbezogen. Zur Verbindung Halswirbelsäule–Kauapparat wurden von Anfang an auch die Sehwerkzeuge und das Gleichgewichtssystem integriert. Letzten Endes kann keines der Teilsysteme ohne die Informationen der anderen auskommen.

Theoretisches Konzept
Neuere Arbeiten aus der Hirnforschung zeigen, dass „auf jeder Ebene des Rückenmarks, in einer Region, die als ‚Lamina‘ bezeichnet wird (im Hinterhorn der grauen Substanz des Rückenmarks und im kaudalen Teil des Trigeminuskerns), die Informationen durch periphere C- und A-Nervenfasern (dünne, marklose und langsam leitende Fasern) an das Zentralnervensystem übermittelt werden. Diese Informationen hageln buchstäblich aus allen Bereichen des Körpers auf das Gehirn ein und betreffen so unterschiedliche Parameter wie den Kontraktionszustand der glatten Muskulatur in den Arterien, die lokale Blutflussmenge, die lokale Temperatur, chemische Stoffe, die bei Verletzungen frei werden, und zuletzt pH-, O2- und CO2-Werte. Alle diese Informationen werden vom ventro-medialen Anteil des Thalamus an neuronale ‚Landkarten‘ in der vorderen und hinteren Insel weitergegeben. Anschließend kann die Insel die Signale an Regionen wie den ventro-medialen präfrontalen Kortex und den vorderen Gyrus cinguli senden. Dabei durchlaufen die Informationen aus dem Rückenmark auch den Trigeminuskern.“ (Antonio Damasio)

Die komplexeste Steuerung hat sich bei den Primaten und Hominiden entwickelt. Flexion und Extension der Halswirbelsäule (HWS) beeinflussen das Öffnungsverhalten des Kiefers. Die Haltung der HWS wiederum wird auch durch Becken und Lendenwirbelsäule (LWS) beeinflusst. Auf die enge Verschaltung von inneren Organen und Köperoberfläche sowie Myotom haben in den 60er-Jahren des vergangenen Jahrhunderts Hansen und Schliack hingewiesen. Die biologische Verdrahtung der Kopfregion, Mitwirkung am Gleichgewicht, der Nahrungsaufnahme besorgt das Trigeminussystem. Der Trigeminus reicht mit seinem sensiblen spinalen Ast bis in die obere HWS und hat auch Verbindung zu den Augenmuskeln. Dies ist eine mögliche Erklärung dafür, dass bei Störungen in der HWS, speziell nach Schleudertraumata der HWS unklare Sehstörungen auftreten.

Kiefermuskulatur
Genauso wie andere Muskeln sind auch die Muskeln, die mit dem Kiefergelenk zu tun haben, den Störungseinflüssen von Fehlbelastung, Trauma und Störaspekten aus dem Mundkieferbereich ausgesetzt. Die Kiefermuskulatur hat aber neben den Augenmuskeln die höchste Rezeptorendichte der Muskulatur. Die Kiefergelenkmuskeln können Triggerpunkte entwickeln, die mit ihrem „referred pain“ Schmerzzustände auch außerhalb der Kiefergelenksregion verursachen. Es ist schon über 30 Jahre her, dass Travell und Simmons mit ihrem bahnbrechenden Manual der Triggerpunkte auf diese Schmerzart hingewiesen haben.

Ebenfalls über 25 Jahre alt ist die Arbeit von Hannsen und Kobajashi, die zeigen konnten, dass Okklusionshindernisse von 0,1 mm weit über das lokale Kiefergelenk hinausgehende Beschwerden machen können. Bei gesunden Personen führte die Anwesenheit von künstlich aufgebrachten Okklusionshindernissen auf der Kaufläche der Molaren zu Erhöhung des Kor- tisolspiegels, Schlafstörungen und Störungen der Muskulatur, speziell in den Kaumuskeln, die auch nach der Entfernung des Okklusionshindernisses über Wochen bestehen blieben. Nach einer Studie von Gumbiller aus Prien sollen 70 bis 80 Prozent der chronischen Beschwerden am Bewegungssystem durch das Kiefergelenk bedingt sein und sollten unbedingt abgeklärt werden.

Seit über 40 Jahren beschäftigt sich Prof. Harold Gelb, Leiter der Pain Clinic an der Tufts University in Boston, mit dem Problem Kiefergelenk und Statik. Seine These: „Gehe von orthopädischen Idealverhältnissen und -proportionen aus und versuche, diese auch und gerade für Gesicht, Schädel, Mandibula und Kiefergelenk (wieder) herzustellen.“ Er setzte als einer der ersten die Tatsache um, dass die Stellung der Zähne und die vertikale Dimension entscheiden, wie der Condylus mandibularis in der Fossa articularis des Os temporale zu liegen kommt und dass nicht die Muskulatur und nicht das Gelenk, sondern die Stellung der Zähne – und somit die Interkuspidation (IKP) – entscheidet. Mit Kunststoffschienen auf den Unterkiefer versuchte Prof. Gelb die Körperhaltung zu beeinflussen. Der Forscher vertritt die Meinung, dass das Kiefergelenk dem Stütz- und Bewegungssystem übergeordnet ist und Störungen desselben wiederum das Kiefergelenk (Ursache und Folgekette) beeinflussen.

Praktische Konsequenzen
Da sich Kiefergelenk und Haltungsapparat gegenseitig beeinflussen, hat das auch Ein-fluss auf die zahnärztliche Bissnahme. In jeder Sekunde der Bissnahme fixiert der/ die Zahnarzt/-ärztin oder Kieferorthopäde/-in die Fehlstatik des Patienten. Deshalb sollte vor den Bissnahmen im Idealfall eine Balancierung des muskulären Systems durch eine manuelle Therapie (Chirotherapie) und/oder Osteopathie erfolgen. Bereits vor 20 Jahren konnten Kopp und Plato die Beeinflussung der Ruheschwebe des Unterkiefers durch Atlastherapie nach Arlen zeigen. Um den Behandlungserfolg durch eine Schienentherapie zu stabilisieren, ist eine begleitende Physiotherapie der Kiefer- und Halsmuskulatur unbedingte Voraussetzung.

Störungen des Kiefergelenks und der Zahnstellung können vielfältige Störungen am Bewegungssystem hervorrufen:

Beschwerden bei einer cranio-mandibulären Dysfunktion (CMD) am Kopf:
• Stirn- und Schläfenkopfschmerz
• Nebenhöhlenbeschwerden
• Haare oder Kopfhaut berührungsempfindlich

Beschwerden bei CMD am Ohr:
• Ohrengeräusche (beispielsweise Pfeifen, Rauschen...)
• schlechtes Hören
• Ohrenschmerzen ohne Infekt
• Ohr „zu“ oder „juckt“
• Schwindelgefühl, Übelkeit

Beschwerden bei CMD am Kiefer:
• Gelenksknacken
• Reibegeräusche
• Kieferschmerzen
• Gesichtsschmerzen
• Kieferklemme
• Unkontrollierbare Kiefer- oder Zungenbewegungen

Beschwerden bei einer CMD an den Augen:
• Schmerzen hinter dem Auge
• Lichtempfindlichkeit

Beschwerden bei CMD an der vorderen Halsregion:
• Schluckbeschwerden
• Heiserkeit
• Halsschmerzen ohne Infekt
• Häufiges Räuspern
• Stimmveränderungen
• „Kloß im Hals“

Beschwerden bei CMD am Nacken:
• Nackensteife
• Bewegung eingeschränkt
• Nackenschmerzen
• Schulter- und/oder Rückenschmerzen
• Taubheit oder Missempfindungen in Armen oder Fingern

In der täglichen Praxis hat sich unter Therapeuten/-innen, Zahnärzten/-innen wie Ärzten/-innen und Physiotherapeuten/-innen folgendes Vorgehen bewährt: Um periphere Auswirkungen der Störung des stomatognathen Systems zu identifizieren, ist es sinnvoll, sich entsprechende Parameter zu suchen und deren Veränderung mit und ohne festen Biss zu prüfen. Hier eignen sich Tests aus der manuellen Medizin, wie variable Beinlängendifferenz, Patrick-Kubis-Zeichen oder der Priener Abduktionstest und die Thoraxrotation. Alle diese Parameter sollten eine Änderung bei festem Biss aufweisen.

Als potentes Untersuchungsinstrument hat sich der Muskeltest der Applied Kinesiology erwiesen, wie er im Ärztekammerdiplom der Österreichischen Ärztekammer festgelegt ist. Auf jede Form der Stressänderung reagiert der Körper mit einer Änderung der Muskelstärke bei definierter Muskeltestung. Geht Stress vom stomatognathen System aus, erzeugt der Biss ebenfalls eine Änderung der Muskelstärke beim Test. Zahlreiche Therapeuten haben inzwischen die Erfahrung gemacht, dass dieses System sensibler ist als das Blaupapier bei der Bissprüfung zeigt. Besonders periphere Auswirkungen des stomatognathen Systems können mit der Applied Kinesiology zuverlässig aufgedeckt werden.

Relevanz für die Praxis
- Zahnärzte/-innen und Therapeuten/-innen, die sich mit dem Bewegungsapparat beschäftigen, sollten ihr therapeutisches Vorgehen aufeinander abstimmen.
- Bei Anzeichen einer Störung von stomatognathem System und Bewegungssystem können einfache periphere Untersuchungsparameter verwendet werden (Beinlängendifferenz, Abduktionstest Hüfte etc.).
- Als ideales gemeinsames Arbeitsmittel kann die Methode der Applied Kinesiology verwendet werden (www.imak.co. at).
- Vor jeder zahnärztlichen Bissnahme sollte eine manualmedizinische oder osteopathische Korrektur des Achsenskeletts erfolgen.

Der Beitrag erschien erstmals im „Journal für Mineralstoffwechsel“ (16/4, 2009). Die Literaturliste ist auf Anfrage in der Dental Tribune Redaktion erhältlich.
 

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